STERNSCHLAG / KEIN AUSGANG TEIL 1

die Ausstellungsreihe: Höhepunkte der Architektur des 20. Jahrhunderts
die Ausstellung: Kiesler's "Endless House"
Ausstellungsobjekte: hunderte von Skizzen, Modellen, Fotografien
des Weiteren: Briefwechsel, theoretische Abhandlungen
das Endless House: der alptraumhafte, nie verwirklichte Entwurf einer ursprünglichen, höhlenartigen Behausung
der Entwurf: wie ein eigener Organismus; er sieht aus wie ein großes Ei, in dem man wohnt; erinnert ein wenig an die Häuser der Flinstones
die Modelle des Endless House: nur grob verputzt; fast wie Mondlandschaften
meine Stimmung: düster, traumverloren - bereit in den Welten von Kiesler's Endless House zu versinken
der Ort der Ausstellung: ein neues Multifunktionsgebäude, das vor ein paar Wochen erst fertig gestellt wurde
ich: stehe direkt vor dem Gebäude, wo die Ausstellung stattfinden soll
das Gebäude: ich kenne es bereits aus einem längeren Artikel in einer Architekturfachzeitschrift
Architekturzeitschriften: für mich immer faszinierend - auch wenn ich selbst kein Architekt bin
Kurzbeschreibung des Gebäudes: zehn Etagen
Etagen 4-9: Büros kleiner und mittlerer Unternehmen
Etagen 1-3: Museen und Kulturveranstaltungsorte
das Erdgeschoss: eine Ladengalerie mit edlen Boutiquen und Restaurants
die Architektur des Gebäudes: in Fachkreisen gelobt
zurück zur Ausstellung: hier; irgendwo in diesem Gebäude
der genaue Ort der Ausstellung: mir unbekannt
mein Blick: suchend nach einem Hinweis
Hinweisschilder in der luftigen Eingangshalle: Fehlanzeige
die einzigen Plakate auf Plakatständern: die Rabatt-Aktion eines Herren-Ausstatters betreffend
genauerer Blick: nein, es gibt tatsächlich kein einziges Hinweisschild für die Ausstellung zu Kiesler's Endless House
Frage an mich selbst: ob ich mir die Daten - Ausstellungsort und -zeitpunkt - richtig gemerkt habe
Antwort: ja, ich bin ganz sicher, dass ich die Informationen aus der Zeitung richtig im Kopf behalten habe
Idee: vielleicht gibt es vor dem Gebäude einen Hinweis; vielleicht erreicht man die Ausstellung über einen Nebeneingang
ein paar Schritte: nach draußen
vor dem Eingang: ebenfalls kein einziges Hinweisschild
Frage an mich selbst: ob sich vielleicht die Zeitung, der ich die Ausstellungsdaten entnommen habe, geirrt hat
Antwort: schon möglich; die einzig plausible Erklärung
aber: so schnell aufgeben will ich jedenfalls nicht
Frage an mich selbst: wo denn eine solche Ausstellung in diesem Gebäude stattfinden kann
Antwort: eigentlich nur in einer der unteren Etagen
Idee: das Gebäude auf eigene Faust zu erkunden
dann: gesagt, getan
Startpunkt meiner Erkundung: die Aufzüge
vor den Aufzügen: eine Gruppe von Geschäftsmenschen - Unternehmensberater, Versicherungsangestellte
Ziel der Angestellten: ihre Büros in den oberen Etagen
die Gruppe von Menschen: wartend vor den Aufzügen
dann ein Geräusch: ein sanfter Klang
der Pfeil über einer Aufzugstür: aufleuchtend
die Türen des Aufzugs: nun geöffnet
das Einsteigen: jeder drückt auf das Knöpfchen seiner Zieletage
alternativ: jeder schaut beim Betreten des Aufzuges nach, ob das Knöpfchen seiner Zieletage schon leuchtet
die Knöpfchen: 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
im Aufzug angekommen: ich muss irgendeine Zahl auswählen
alle anderen: wissen beim Einsteigen genau, wo sie hin müssen
ich: möchte nicht auffallen; drücke also auf das Knöpfchen "3"
die Idee: ich fange mit meiner Suche nach der Ausstellung in Etage 3 an
mein Platz im Aufzug: auf die Türen gerichtet
Aufzugsfahrten allgemein: mir unangenehm - aus zwei Gründen
erstens: die Aufzugsfahrt an sich
Aufzugsfahrten: mir aus tausenden Träumen bekannt; immer mit einer dunklen Symbolik beladen
zweitens: das enge Zusammensein mit fremden Leuten
die Unsicherheit: wo kann ich hinschauen?
mein Blick: irgendwo auf die Decke, irgendwo auf die Beleuchtung des Lifts gerichtet
die Türen des Aufzuges: nun geschlossen
Start der Aufzugsfahrt: jetzt
das Gefühl bei der Anfahrt: Schwere in den Beinen
der Aufzug: beschleunigend; Fahrt nach oben
über den Auszugstüren mit leuchtenden Zahlen angezeigt: der momentane Ort des Lifts
die Etage: 1
1. Etage: kein Stopp
die Etage: 2
2. Etage: kein Stopp
die Etage: 3
der Aufzug: er wird langsamer; bremst ab
ich: werde der erste sein, der aussteigt
Etage: 3
der Aufzug: er hält jetzt; bewegt sich nicht mehr
ich: mache mich bereit zum Aussteigen
die Türen: sie bewegen sich nicht
das Warten: ungeduldig
der Aufzug: komplett im Stillstand
im Aufzug: kein einziger Ton
nun: ein paar Menschen wenden ihre Köpfe zu der Leiste über den Aufzugstüren
über den Aufzugstüren: die "3" leuchtet, aber die Türen öffnen sich nicht
die Wartezeit: einfach zu lange, als dass alles in Ordnung wäre - das scheinen jetzt alle Insassen bemerkt zu haben
hinter mir: ein Seufzen
die Frage: werden sich die Türen noch öffnen?
die Frage: sind wir stecken geblieben?
die Türen: bewegen sich noch immer nicht
mein Blick auf das Armaturenbrett: die zehn Knöpfchen für die zehn Etagen, ein Alarmknopf und ein Nothalte-Knopf
im Aufzug: Stille
dann plötzlich: ein lautes Geräusch
das Geräusch: metallisch; mit ohrenbetäubendem Lärm
der Ursprung des Geräuschs: in unmittelbarer Nähe; irgendwo im Aufzugsschacht
das Geräusch: wie Metall gegen Metall; als ob sich Stahl biegt
die anderen Fahrgäste: zusammenzuckend; sich in einer Instinkthandlung bückend
die Gesichter: plötzlich kreideweiß
ich: muss genauso schlimm aussehen
meine Beine: wie Pudding
meine Arme: an der Aufzugswand nach Halt suchend
das Geräusch: noch immer anhaltend
der Aufzug: leicht bebend
in meinem Bewusstsein: leichte Panik
im Hintergrund meines Bewusstseins: Erinnerungen an einen Traum
das Licht: flackernd
dann: wieder stetig leuchtend
das Geräusch: hat aufgehört
jetzt: Stille
jetzt: Erleichterung in den Gesichtern; der Anflug von Panik so schnell verflogen wie er aufgetaucht ist
Frage von uns allen: was war passiert?; wären wir eben fast abgestürzt?
Frage von mir an mich selbst: ist es möglich, dass Aufzüge abstürzen?
weitere Frage: werden sich nun die Türen öffnen?; wird jetzt alles wieder normal weitergehen?
doch plötzlich: ein weiteres Geräusch
wieder: erschrecktes Zusammenzucken
doch gleich danach die Erkenntnis: jemand hat den Alarmknopf gedrückt
das Geräusch: ein schriller Alarmton; nicht gerade geeignet, um Menschen zu beruhigen
mein Wille: hier herauszukommen
in diesem Moment: egal wie
dann: alles fängt von vorne an
wieder: das laute, ohrenbetäubende, metallische Geräusch
gleichzeitig mit dem Alarmton: ein fürchterlicher Krach
Metall: gegen Metall
Vermutung: es müssen ungeheure Kräfte sein, die dieses Geräusch auslösen
das Geräusch: noch lauter als beim ersten mal
Vermutung: hier ist definitiv etwas mit dem Aufzugsschacht nicht in Ordnung
das Licht im Aufzug: flackernd, dann fällt es ganz aus
der Aufzug: komplett dunkel
dann: zitternd, schüttelnd
Frage: Aufzüge werden so gebaut, dass sie nicht abstürzen können, oder?
verzweifelte Frage: das stimmt doch, oder?
in meinem Bewusstsein: Panik
und: volle Wachsamkeit
in Momenten der Panik: der Mensch nur noch wie ein Tier
Instinkte: an Stelle von überlegten Handlungen
das lärmende Geräusch: als ob etwas grundlegendes in der Architektur dieses Gebäudes zusammenbricht
Befürchtung: das ganze Gebäude stürzt ein
oder: ist doch nur etwas mit dem Aufzug oder dem Aufzugsschacht nicht in Ordnung?
das Licht: jetzt wieder flackernd
die anderen Insassen: teilweise schreiend
in den Gesichtern: Todesangst
der Aufzug: für einen kurzen Moment ganz still
dann: ruckelnd
das Ruckeln: sich langsam steigernd
das Ruckeln: viel schlimmer als vorher
die Insassen: haben keinen Halt mehr und fallen übereinander
eine Frau: stößt einen furchterregenden Schrei aus
Panik: Todesangst
der Aufzug: bewegt sich; ruckelt nun seitwärts; dreht sich dabei scheinbar um seine eigene Achse
der Aufzug: muss aus dem Aufzugsschacht herausgebrochen sein
der Lärm: ohrenbetäubend
der Lärm: Metall gegen Metall; ein furchtbares Geräusch
dazu: immer noch der schrille Alarm
Erinnerungen an einen Traum: Sternschlag
Erinnerungen an einen Traum: wie bei einem Flugzeugabsturz
der Aufzug: bewegt sich mit hoher Geschwindigkeit seitwärts und dreht sich dabei um sich selbst
richtig: er bewegt sich seitwärts
die Auszugsfahrt: der reinste Horror
die Insassen: purzeln übereinander; liegen alle am Boden
die panische Frage in mir: was um Himmels Willen ist hier los?
Frage an mich selbst: wie ist es möglich, dass ein Aufzug aus seinem Schacht herausbricht?
weitere Frage: bricht gerade das gesamte Gebäude ein? Werden wir begraben werden unter der Last von sechs Etagen über uns?
Oder: wo wird der Aufzug zum Stehen kommen? Werden die Gebäudemauern uns halten? Werden wir aus dem Gebäude herausgeschleudert?
die plötzliche Idee: ist das ein terroristischer Angriff?
meine Gedanken: wild durcheinander springend
ich: denke zum ersten mal darüber nach wie es sein könnte zu sterben
Angst: ja, ich habe Angst; bin voller Panik
Angst: ich habe ganz große Angst davor zu sterben; so große Angst, dass ich zum ersten mal in meinem Leben Gedanken über meinen Tod überhaupt zulasse
dann plötzlich: meine Gedanken unterbrochen
das metallische Geräusch: es hat einfach aufgehört - so als wäre nichts gewesen
immer noch anhaltend: das Geräusch des Alarms
der Aufzug: bewegt sich weiter; schlittert seitwärts
die Aufzugsfahrt: weiter seitwärts
die Geschwindigkeit: sie nimmt ab
ja: die Geschwindigkeit der Fahrt nimmt ab
die Hoffnung: der Aufzug wird doch noch zum Stehen kommen
vielleicht: wird doch noch einmal alles gut gehen
ein Blick auf die anderen Insassen: teilweise starr vor Angst, teilweise wie gebannt
andere: immer noch schreiend
der Aufzug: weitere Verlangsamung der Fahrt
das Gefühl: Erleichterung
trotzdem: Ungläubigkeit über das, was gerade passiert ist
dieses Ereignis eben: unfassbar; vollkommen unfassbar
der Aufzug: nun im Stillstand
der Alarmton: endlich aufhörend
der Fahrstuhl: komplett ruhig
vermuteter Ort: irgendwo in der dritten Etage
das Gefühl: endlich wieder fester Boden unter den Füßen; ein sehr beruhigendes Gefühl
das Gefühl: als ob wir gerade eine Katastrophe überlebt hätten
die Insassen: sich langsam vom Boden aufhebend; teilweise ihre Kleidung und Haare richtend
hinter mir: ein erleichtertes Lachen
erste Pläne für danach: den Kollegen oder Angehörigen von diesem unglaublichen Ereignis zu erzählen
hoffnungsvolle Vermutung: bald wird uns jemand aus dem Aufzug befreien
und wenn nicht: auch erst einmal nicht so schlimm, Hauptsache der Aufzug bleibt still
irgendwann: werden wir hier schon herauskommen
dann ein Geräusch: ein sanfter Klang
die Türen des Aufzuges: sie öffnen sich
meine Beine: immer noch wie Pudding
mein Blick: auf die anderen Insassen gerichtet
plötzlich: ein furchtbarer Schrei
dann: weitere erschreckte Laute von Leuten, die aus den offenen Aufzugstüren blicken
hier: muss etwas nicht in Ordnung sein; hier muss etwas absolut nicht in Ordnung sein
mein Blick: blitzschnell in die dritte Etage gerichtet
die dritte Etage: ein Großraumbüro
im Großraumbüro: das reinste Massaker
auf den Schreibtischen: Menschenleichen
auf dem Boden: Leichen; halb-tote Menschen
die Wände: voll gespritzt mit Blut
Blut: überall; die gesamte Etage voller Blut
dann: ein weiterer Schrei der Aufzugsinsassen
jemand: erscheint vor den Aufzugstüren
jemand: der Abteilungsleiter - von außen in den Aufzug blickend
in seiner Hand: drei Gewehre
der Abteilungsleiter: er lacht laut, "oh, es gibt noch mehr"
ein Gewehr: wird angelegt und auf uns gerichtet
in meinem Bewusstsein: nichts als Panik
im Aufzug: nur noch Schreie
der erste Schuss: erfolgt
der zweite Schuss: erfolgt
die Schüsse: hören gar nicht mehr auf
die Aufzugsinsassen: suchen verzweifelt nach Verstecken, um dem Kugelhagel zu entkommen
die stärkeren Insassen: benutzen in ihrer Panik die schwächeren als menschliche Schutzschilder
die Schüsse: hören nicht auf
Leichen: fallen zu Boden und werde als Schutzschilder wieder aufgehoben
Panik: jeder kämpft nur noch für sich selbst
meine Erkenntnis: es gibt kein Entkommen
mein Körper: erstarrt
das Schreien, die Schüsse: ich nehme sie nur noch weit entfernt war
die Schüsse: werden erst aufhören bis sich nichts mehr bewegt
mein Körper: ich spüre weit entfernt wie er einige male getroffen wird
die Zeit: wird langsamer
die Geräusche: verändern ihre Frequenz
die Geräusche: taumeln; wabern; bleiben stehen
irgendwann: Stille
die Zeit: sie bewegt sich nicht mehr





San Ysidro, Kalifornien - in der Nähe der mexikanischen Grenze nach Tijuana. Ein McDonalds-Restaurant an einer viel befahrenen Straße. Nachmittags, 16 Uhr. Hier gehen Familien mit ihren Kindern essen. Hier halten Truckfahrer auf ihrer Durchreise an, um sich Burger zu holen. Hier machen Frauen zwischen den Einkäufen im nebenan gelegenen Shopping Center Pause. Die meisten sind Mexikaner, die über die Grenze gekommen sind.

JOHN ARNOLD
John Arnold, ein 16-jähriger Angestellter des McDonalds-Restaurant, sieht wie ein wütender, mit drei Gewehren bewaffneter Mann sein Lokal betritt, auf ihn zuschreitet und eines seiner Gewehre direkt auf ihn richtet. Der Mann, Mr. Huberty, spielt mit dem Abzug, doch nichts geschieht. John Arnold dreht sich um, angeekelt von dem, was er für einen kranken Scherz hält. Er überlebt das Massaker.

NEVA CAINE
Neva Caine, die Managerin des McDonalds-Restaurants, sieht wie ihre Angestellten und Gäste nervös werden wegen des bewaffneten Mannes. Manche bewegen sich schnell zum Ausgang, andere rutschen ängstlich auf ihren Sitzen umher. Andere wiederum halten das alles für einen Scherz oder eine Art Werbung für einen neuen Hollywood-Film. Als Mr. Huberty die erste Runde an Schüssen in die Decke des Restaurants setzt, wird aber allen klar: dies ist ernst. Neva Caine schreitet auf den Mann zu, um ihn zur Rede zu stellen und ihres Restaurants zu verweisen. Mr. Huberty richtet stillschweigend ein Gewehr auf den Kopf der frisch verheirateten Frau und schießt ihr in die linke Augenhöhle. Dann schreit er, alle sollen sich auf den Boden legen. Neva Caine stirbt innerhalb weniger Minuten.

MARIA RIVIERA
Maria Riviera hat mit ihren beiden Kindern gerade einen Sitzplatz gefunden als Mr. Huberty zum ersten mal in die Decke schießt. Ihr Ehemann, Victor Riviera, wartet noch an der Theke, um seine Bestellung abzuholen. Er befindet sich in unmittelbarer Nähe als Mr. Huberty die Managerin erschießt. Schließlich richtet sich das Gewehr auch auf ihn. Er fängt an, den wütenden Mann anzuflehen, ihn nicht zu erschießen. Mr. Huberty schreit "Shut up!" und schießt. Maria Riviera muss ansehen wie ihr Mann zu Boden fällt und vor Schmerzen schreit. Mr. Huberty schreit ihn immer noch an, "Shut up!", "Shut up!" und schießt insgesamt 14 mal auf den am Boden liegenden Mann. Maria Riviera bricht zusammen. Sie und ihre beiden Kinder überleben.

ARISDELSI VARGAS VUELAS
Arisdelsi Vargas Vuelas, die mit zwei Freundinnen aus Tijuana über die Grenze gekommen ist, um im McDonals-Restaurant von San Ysidro zu essen, will gerade das Lokal verlassen als Mr. Huberty in die Luft schießt. Sofort verkriechen sich die drei Frauen voller Panik unter dem Tisch einer Sitzecke. Die beiden Freundinnen haben dabei die besseren Plätze. Sie halten ihre Köpfe gegen die Wand gepresst und ihre Arme schützend um ihre Brustkörbe gelegt. Arisdelsi Vargas Vuelas muss sich hinter die beiden drängeln. Mr. Huberty, der jetzt auf alles schießt, was sich bewegt, sieht wie die Frauen sich unter dem Tisch verstecken. Er bückt sich und schießt mehrfach auf sie. Eine der Freundinnen bleibt dabei unverletzt, die andere wird mehrfach, aber nicht lebensgefährlich verletzt. Arisdelsi Vargas Vuelas wird ein einziges mal getroffen von einem Schuss in ihren Kopf. Sie stirbt am nächsten Tag im Krankenhaus.

AURORA PENA
Aurora Pena, 11 Jahre alt, geht mit ihrer Tante und deren Baby im McDonalds-Restaurant essen. Begleitet werden die drei von einer Freundin der Tante und deren Tochter sowie einer zweiten Bekannten. Als sie an der Theke stehen und Mr. Huberty anfängt zu schießen, gleiten alle sofort zu Boden. Auroras Tante presst ihr Baby fest an sich und legt sich schützend über Aurora und das Baby. Mr. Huberty schaut auf die am Boden liegende Gruppe und fängt an zu schießen. Eine der beiden Bekannten sowie die Tochter der Freundin werden getötet. Dann fängt Mr. Huberty an, auf Auroras Tante zu schießen. 48 Schüsse treffen sie. Aurora Pena fühlt wie der Körper, der da auf ihr liegt, zuckt und sich biegt bei jedem Schuss, bis sich schließlich gar nichts mehr bewegt. Das Baby befreit sich unter der toten Mutter und brüllt nun so laut wie es nur kann. Mr. Huberty streckt es mit einem einzigen gezielten Schuss nieder. Aurora stellt sich, noch immer unter ihrer Tante liegend, tot. Als sie nach einiger Zeit denkt, Mr. Huberty von weit entfernt zu hören, wird sie neugierig und öffnet die Augen. Doch Mr. Huberty ist ganz in ihrer Nähe. Er sieht die geöffneten Augen des Mädchens, schnappt sich eines seiner Gewehre und trifft ihr linkes Bein. Aurora Pena stellt sich sofort wieder tot und wagt es kein zweites mal, die Augen zu öffnen. Bis alles vorbei ist. Sie überlebt.

MATAO HERRERA
Matao Herrera, ein kleiner Junge aus San Ysidro, sitzt mit seinem besten Freund und seinen Eltern an einem Esstisch als Mr. Huberty das Lokal betritt. Als dieser anfängt zu schießen, verstecken sich die vier - wie so viele andere Gäste - unter den Tischen. Matao wird dabei von seiner Mutter geschützt, die ihn gegen die Wand presst und schützend ihren Körper über seinen hielt, sein Freund verkriecht sich mit seinem Vater unter einer zweiten Sitzecke. Mr. Huberty tötet Matao Herreras Mutter, dann wird Matao - nun ungeschützt - selbst tödlich getroffen. Sein Vater überlebt mit einigen Schusswunden, sein bester Freund bleibt unverletzt.

MIGUEL VICTORIA
Miguel Victoria und seine Frau, ein altes Ehepaar aus Tijuana, haben gerade ihr Auto geparkt, um im McDonalds-Restaurant Hamburger für zu Hause abzuholen. Schon im Eingangsbereich kommt Mr. Huberty auf sie zu und schießt auf die beiden. Miguel Victorias Frau fällt tot zu Boden, mit einer Schusswunde mitten im Gesicht. Miguel selbst wird ebenfalls getroffen und sinkt zu Boden. Als er den zerschossenen Kopf seiner Frau sieht, nimmt er ein Taschentuch, und versucht verzweifelt all das Blut aus ihrem Gesicht zu wischen. Er schreit den Mann an, der seine Frau getötet hat. Mr. Huberty schreit zurück, "Shut up!", "Shut up!" und erschießt den alten Mann aus nächster Nähe. Miguel Victoria stirbt direkt neben seiner Frau.

GUS VERSLIUS
Gus Verslius, ein Truck-Fahrer am letzten Tag vor seinem Ruhestand, befindet sich außerhalb des Restaurants, als Mr. Huberty ihn durch die Fenster sieht. Dieser schießt nun auch auf Personen vor dem Eingang des Lokals. Gus Verslius reagiert genervt als er den Mann mit seinen Gewehren sieht. Er sieht nichts von dem Massaker im Restaurant. Mr. Huberty feuert ein paar Kugeln auf den Mann und tötet ihn.

OMAR HERNANDEZ
Omar Hernandez, ein 11-jähriger Junge, fährt mit zweien seiner Freunde Fahrrad. Die Jungs wollen sich Donuts holen. Einer seiner Freunde hat aber eher Lust auf Eis, deswegen beschließen die drei, zu McDonalds zu gehen. Vor dem Restaurant angekommen hören sie schon jemanden schreien, dann fallen Schüsse. Bevor sie verstehen, was geschieht, werden die Kinder schon von Kugeln getroffen. Sie fallen zu Boden. Ihre Körper, in die Fahrräder verwickelt, sind voller Schusswunden und bluten. Omar Hernandez und einer seiner Freunde sterben direkt an ihren Verletzungen. Der zweite Freund stellt sich tot und wird nach 70 Minuten von der Polizei gerettet.

ALBERT LEOS
Albert Leos arbeitet mit zwei Kollegen in der Küche des McDonalds-Restaurants. Als die Schüsse anfangen und drei junge Frauen zu ihnen fliehen, ruft einer seiner Kollegen sofort die Polizei. Dann kommt Mr. Huberty in die Küche geschritten. Er scheint erfreut, dort sechs weiteren Opfern zu begegnen - "Oh, es gibt noch mehr!" - und legt eines seiner Gewehre an. Die Gruppe rennt voller Panik in Richtung Notausgang. Albert Leos' Kollegen aus der Küche schaffen es zu entkommen. Er selbst wird festgehalten von einer der Frauen als diese verletzt von einem Schuss auf ihn fällt und er sich unter ihr nicht mehr befreien kann. Alle drei Frauen sterben. Albert Leos überlebt.

KEN DICKEY
Ken Dickey, ein 20-jähriger College-Student, der bei McDonalds als Aushilfe arbeitet, flieht mit einem Kollegen in einen Kellerraum als Mr. Huberty anfängt zu schießen. Später stößt noch eine Frau mit einem Baby und ein Verwundeter zu den beiden ins Versteck. Die Frau versucht während der ganzen Zeit verzweifelt, das Baby nicht zum Schreien zu bringen - Mr. Huberty darf sie hier unten auf keinen Fall hören. Als die Gruppe nach 70 Minuten endlich von der Polizei befreit wird, müssen sie durch den Tatort laufen, um nach draußen zu gelangen - mit den Köpfen zu der Seite gerichtet, wo keine Leichen, wohl aber eine Wand voller Blut zu sehen ist. Alle überleben.

JAMES HUBERTY
James Huberty nimmt drei Gewehre aus seiner Waffensammlung und verlässt gegen 16 Uhr sein Haus. Er küsst seine Frau zum Abschied und sagt, er würde auf Menschenjagd gehen. Sie nimmt das nicht ernst. Anderthalb Stunden später hat Mr. Huberty 21 Menschen erschossen.
Mr. Huberty wird Anfang der 40er Jahre in Ohio geboren. Als er sieben Jahre alt ist, verlässt seine Mutter die Familie, um Missionarin zu werden. Mr. Huberty leidet unter diesem Verlust. Und er macht Gott dafür verantwortlich, ihm seine Mutter weggenommen zu haben. Mr. Huberty wird ein einsames, trauriges Kind. Gewehre und Waffen sind das einzige, für das er sich interessiert.
In den 60er Jahren studiert er Soziologie und arbeitet nebenbei als Einbalsamierer bei einem Bestattungsinstitut. Er heiratet eine Mitstudentin und zieht mit ihr in ein Mittelklassehaus, das das Paar liebevoll einrichtet. 1965 absolviert er, doch eine Karriere als Soziologe strebt er nicht an. Auch die Arbeit im Bestattungsinstitut will er, da ihm der in diesem Beruf notwendige Umgang mit den Angehörigen der Toten nicht leicht fällt, nicht fortsetzen. Stattdessen wird er Schweißer, später Angestellter einer Sicherheitsfirma.
Das Paar bekommt zwei Töchter. Mr. Huberty legt viel wert darauf, der Ernährer seiner Familie zu sein. Es ist der Traum einer gesunden, glücklichen Familie, für den er arbeitet. Ambitionen, die darüber hinaus gehen, pflegt er keine. Doch alles außerhalb seiner Familie ist für Mr. Huberty Feindesland. Er hält sich Deutsche Schäferhunde als Wache, sammelt Gewehre und droht Nachbarn des öfteren, sie umzubringen. Es gibt mehr als hundert Beschwerden bei der Polizei - hauptsächlich wegen der bellenden Hunde -, doch bestraft wird Mr. Huberty nie.
Als Mr. Huberty in den 80er Jahren seinen Job verliert, bricht für ihn eine Welt zusammen. Er, der so besessen davon ist, mit seiner eigenen Familie das Glück zu finden, das er als Kind nie kannte, sieht als einzigen Ausweg, in das wirtschaftlich besser darstehende Kalifornien zu ziehen. 1983 zieht die Familie also nach San Ysidro, einem kleinen Ort südlich von San Diego, nördlich der mexikanischen Grenze. Doch auch dort findet Mr. Huberty keine Arbeit. Im Gegenteil: er sieht wie Mexikaner ihm die Jobs wegnehmen, die seiner Meinung nach den US-Bürgern zuständen. Mr. Huberty schimpft ununterbrochen auf seine spanisch sprechenden Nachbarn. Und er schimpft auf Alt-Präsident Jimmy Carter, auf die hohen Zinsen und alle Einrichtungen des Staates.
Einmal nimmt Mr. Huberty eines seiner Gewehre und richtet es gegen sich selbst. Seine Frau reißt es ihm aus der Hand. Von der Polizei will sich Mr. Huberty als angeblicher Kriegsverbrecher festnehmen lassen. Die Polizei unternimmt nichts. Mr. Huberty spielt mit dem Gedanken, sich in die Psychiatrie einliefern lassen. Stattdessen tötet er am 18. Juli 1984 in einem McDonalds-Restaurant 21 Menschen. Der Tatort, voller Glückliche-Familie-Werbung, voller verhasster Mexikaner und zudem Symbol der Ausbeutung der Arbeiterklasse durch Mega-Konzerne, ist mit Bedacht gewählt. Nach 70 Minuten im Lokal wird Mr. Huberty von einem Scharfschützen der Polizei niedergestreckt.

JOSHUA COLEMAN
Joshua Coleman, ein 11-jähriger Junge aus San Ysidro, fährt mit zwei Freunden Fahrrad. Die Jungs wollen sich eigentlich Donuts holen, Joshua hat aber Lust auf Eis, deswegen gehen die drei lieber zu McDonalds. Vor dem Restaurant angekommen hören sie schon Mr. Huberty schreien, dann fallen Schüsse. Bevor sie verstehen, was geschieht, werden die Kinder schon von Kugeln getroffen. Sie fallen zu Boden, ihre Körper in die Fahrräder verwickelt. Mr. Huberty schießt noch immer auf die drei. Joshua Coleman hat die Idee, sich tot zu stellen. Er bewegt sich nicht mehr bis ihn die Polizei wachrüttelt. Seine beiden Freunde sind tot, er hat überlebt.







STERNSCHLAG / KEIN AUSGANG TEIL 2

die Ausstellungsreihe: Höhepunkte der Architektur des 20. Jahrhunderts
das Thema diesmal: das World Trade Center - Aufbau und Zerstörung der Zwillingstürme
Berichterstattung über diese Ausstellung: durchweg sehr positiv
in den Fachzeitschriften: begeisterte Kritiken
die Ausstellung: thematisch und räumlich in zwei Teile geteilt
der erste Teil der Ausstellung: die Phase von der Grundidee bis zur Fertigstellung des World Trade Centers
Ausstellungsobjekte: zahlreiche, immer wieder veränderte Skizzen, Dokumente, Briefverkehr
der zweite Teil der Ausstellung: die Zerstörung der Zwillingstürme durch die terroristischen Angriffe vom 11. September
meine Meinung: ein etwas sensationslüsternes Thema
immerhin: Fokus der Ausstellung auf die architektonische Seite der Zerstörung
Ausstellungsobjekte: Fotografien, Erklärungen zu den Schwachpunkten der Gebäude, die zum Einsturz geführt haben
meine Stimmung: düster, traumverloren; die richtige Stimmung, um sich mit solch einem Thema zu befassen
der Ort der Ausstellung: ein Multifunktionskomplex mit Büros, Kulturflächen, Restaurants und einigen Luxuswohnungen
das Gebäude: erst vor kurzem fertig gestellt; 9 Etagen
die Etage der Ausstellung: 9
Hinweisschilder: in der Eingangshalle
ich: muss also in die neunte Etage
der Weg in die neunte Etage: über Aufzüge
vor den Aufzügen wartend: ein paar Ausstellungsbesucher, ein paar Geschäftsmenschen
die Welt der Büroangestellten: ein seltsamer Mikrokosmos
die Angestellten: alle mit den gleichen Masken im Gesicht
die Masken: Smalltalk, distanziertes Lächeln
Gespräche: über Oracle-Datenbanken und Release-Wechsel
dann: ein Geräusch; ein sanfter Klang
der Pfeil über einer Aufzugstür: aufleuchtend
die Türen des Aufzugs: nun geöffnet
das World Trade Center: in der neunten Etage
das Einsteigen: jeder drückt auf das Knöpfchen seiner Zieletage
alternativ: jeder schaut beim Betreten des Aufzuges nach, ob das Knöpfchen seiner Zieletage schon leuchtet
die Knöpfchen: 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
mein Einsteigen: die 9 leuchtet bereits
mein Platz im Aufzug: auf die Türen gerichtet
Auszugsfahrten allgemein: mir unangenehm - aus zwei Gründen
erstens: die Aufzugsfahrt an sich
zweitens: das enge Zusammensein mit fremden Leuten
mein Blick: irgendwo an die Decke, irgendwo auf die Beleuchtung des Lifts gerichtet
die Türen des Aufzuges: nun geschlossen
Start der Aufzugsfahrt: jetzt
das Gefühl bei der Anfahrt: Schwere in den Beinen
der Aufzug: beschleunigend; Fahrt nach oben
die Etage: 1
Etage 1: kein Stopp
die Etage: 2
Etage 2: kein Stopp
die Etage: 3
der Aufzug: er wird langsamer; bremst ab
eine Frau hinter mir: sie hat beim Einsteigen die 3 gedrückt
die Frau: sie murmelt etwas, das ich nicht verstehen kann
Vermutung: sie will an den anderen Menschen vorbei zu den Aufzugstüren
der Aufzug: er steht jetzt
die Türen: sie gehen nicht auf
die Frau: sie murmelt etwas; wird immer lauter
das Murmeln: wie in einem Gebet
sonst: Stille
der Aufzug: bewegt sich nicht
die Türen: bewegen sich nicht
das Murmeln: gebetsartig
das Gebet: "Ich schaue über jede Mauer - ich kann nicht anders / Ich springe jeden Abhang hinunter - ich kann nicht anders / In diesen Gewässern kreuzen Haifische meine Bahn / In diesem Leben kann ich es mir kaum leisten, meine Augen mehr als nur halb-geöffnet zu halten / Ich schaue über jede Mauer - ich kann nicht anders / Ich springe jeden Abhang hinunter - ich kann nicht anders."





Nach dem Attentat in San Ysidro hörte man im Fernsehen die Aussage eines fassungslosen Polizei-Sprechers "das hätte überall passieren können!" Stimmt das wirklich? War der Ort des Geschehens so beliebig?

Nein, der Ort des Geschehens war absolut nicht beliebig. Er spielte sogar auf mindestens zwei Arten eine besondere Rolle. Man muss nur genau auf die Opfer schauen um dies zu erkennen. Erstens waren unter den Opfern - sowohl bei den Gästen als auch bei den Angestellten des Restaurants - viele Mexikaner. Huberty litt unter der Wahnvorstellung, dass ihm die Mexikaner seinen Job wegnähmen und so seinen Traum von einer glücklichen Familie zum Platzen brächten. Huberty schoss sich hier buchstäblich seine Wut und seine Machtlosigkeit gegenüber den Rivalen von der Seele. Zweitens, und das ist meiner Meinung nach ein noch viel wichtiger Grund dafür, dass Huberty genau diesen Ort für sein Massaker wählte, befanden sich auffällig viele Familien im Restaurant. Huberty hätte eine Bank wählen können, er hätte ein Büro wählen können oder ein anderes Restaurant. Nein, es musste ein McDonalds-Restaurant sein - ein McDonalds-Restaurant mit dem Image, dass dort glückliche Familien essen gehen. Hier spielt die Symbolik eine ganz große Rolle. Huberty zerschoss seine eigene Idee einer glücklichen Familie.
Natürlich stimmt die Aussage des Polizei-Sprechers insofern, als dass man nirgendwo hundertprozentig sicher sein kann, nicht Opfer oder Zeuge eines solchen Attentats zu werden - andere Attentäter wählen andere Orte aus anderen Gründen -, aber nein, die Wahl des Tatortes hatte für Huberty, bewusst oder unbewusst, eine große symbolische Bedeutung.

Das Attentat als symbolischer Akt? Mussten 21 Menschen sterben, weil Huberty seinen Traum von einer glücklichen Familie beerdigen wollte?

Ja. Bei Hubertys Attentat war die Auswahl der Opfer insofern beliebig, als dass es jeden hätte treffen können, der sich zu dieser bestimmten Zeit im Restaurant befand. Es kam Huberty bei keinem seiner Opfer darauf an, dass genau dieses getötet wurde. Doch die Gesamtheit der Opfer spricht eine deutliche Sprache. Es war das Bild der McDonalds-Besucher, das zu dem passte, was Huberty beerdigt haben wollte.

Aus Ihrer Erfahrung heraus gesprochen: spielt allgemein bei Morden oder Attentaten die Symbolik eine große Rolle?

Die meisten Morde haben eine symbolische Komponente. Auch bei Morden, bei denen das Opfer ganz gezielt gewählt ist, also auch bei einer ganz anderen Kategorie von Morden als die, zu der Hubertys Tat gehört, ist die symbolische Betrachtungsweise nicht zu vernachlässigen. Ein häufig anzutreffendes Beispiel sind Morde, die innerhalb einer Familie geschehen. So muss vielmals aus Sicht des Täters eigentlich nicht das Opfer - das Opfer als menschlicher Körper - aus dem Weg geräumt werden, sondern die vermeintliche Macht, die es über ihn hat, oder die Bedeutung, die es in seinem Kopf hat. Jemand wird getötet als symbolischer Akt für einen Befreiungsschlag, der dem Täter sonst nicht möglich erscheint. Auf diese Art funktionieren einige Beziehungstaten.
Betrachten wir ruhig noch ein anderes, dunkles Beispiel aus der Geschichte, wo das Töten eine sehr symbolische Komponente besaß: Hitler. Nach einer durchaus plausiblen Theorie war Hitler schwul, lebte seine Homosexualität dabei aber nie direkt aus. Das einzige, was dem Ausüben seiner Sexualität noch recht nahe kam, war Millionen von Soldaten, die ihm bedingungslos gehorchten, in den Krieg zu schicken. Jedenfalls steht das Töten der Juden und Homosexuellen nach dieser Theorie in einem symbolischen Zusammenhang zu dem Kampf, den Hitler gegen seine eigene Homosexualität führte. Den Juden heftete damals das Stigma an, sie würden sich "weich", "weiblich" verhalten - "irgendwie seltsam", "nicht richtig begreifbar". Damit ist der millionenfache Mord an jüdischen Menschen durchaus auch als ein symbolischer Akt interpretierbar. Hitlers Wunsch, seine weibliche Seite auszuschalten folgte, das Weibliche um sich herum zu Töten.

Warum wurden im Dritten Reich dann die Juden und nicht etwa die Frauen verfolgt und getötet?

Dass sich Hitlers Hass nicht, wie man leicht folgern könnte, gegen die Frauen richtete, liegt wohl an einem allgemeinen, in vielerlei Form wahrnehmbaren Phänomen: Wir alle bauen uns nämlich ein Weltbild auf, wo es ein "Gut" und ein "Böse" gibt. Die beiden Pole bedingen sich dabei gegenseitig. Wir brauchen diese Art von Karte, um Identität aufzubauen. Identität ist etwas sehr wackliges, sie muss immer wieder neu definiert werden. Dies geschieht durch Identifikation mit anderen, durch Bildung von Gruppen, durch Ausgrenzung und durch Suchen von Feindbildern. Das Konzept von Gut-und-böse steht in engem Zusammenhang mit dem Konzept der Identität. Und es funktioniert nach ganz ähnlichem Muster. Auch unsere Moralvorstellungen sind wacklig. Sie entwickeln sich stetig weiter.
Man beobachtet nun oft, dass sich der Hass einer Person weniger gegen eine als "böse" definierte Person richtet als gegen eine Person, die man nicht so richtig einordnen kann, eine Person, die sozusagen die Grenzen sprengt. Denn diese Person ist viel bedrohlicher. Sie ist ein Angriff auf das eigene Weltbild. Hitler konnte das klar definierte "Weibliche", in Form von Frauen, also durchaus akzeptieren - auch wenn er den Frauen um ihn herum fast keine Beachtung schenkte -, sein Hass zielte voll und ganz auf Gruppen, die auf gewisse Art eine Durchmischung zwischen "männlich" und "weiblich" darstellten. Kurz gesprochen und zurück zum Thema: Die meisten Morde haben eine symbolische Entsprechung in der inneren Welt des Täters - ob nun als Unterdrücken der eigenen Person, als Befreiungsschlag oder als Zerschlagen einer Beziehung.

Das klingt, als wären Morde gar nicht weit entfernt von Selbstmorden. In der Tat hat auch Huberty, zumindest nach Aussage seiner Frau, versucht sich umzubringen. Sind Mörder verhinderte Selbstmörder?

Einen Mord zu begehen ist wirklich nicht weit davon entfernt, sich selbst zu töten. Es gibt viele Fälle, bei denen die Tat lange Zeit auf der Kippe stand. Mord oder Selbstmord? Schließlich wird auch durch einen Selbstmord der Teil von einem getötet, der im Falle eines Mordes mit symbolisch behafteten Motiven, getötet werden soll. Ein potentieller Mörder kann eben auch auf die sehr konkrete Art des Selbstmordes Teile von sich zum Schweigen bringen. Ein zweiter Aspekt ist der, dass vielen - längst nicht allen - Tätern durchaus klar ist, dass sie aus einem Massaker wie dem von Huberty nicht mehr lebend herauskommen. Sie nehmen das in Kauf. Bei manchen Fällen würde ich sogar so weit gehen zu sagen, dass die Täter gezielt danach suchen während der Tat erschossen zu werden. Ein Selbstmord also, bei dem noch einige Mitmenschen mit in den Tod gerissen werden.

Sie sprachen eben vom "Gut-und-böse". Was geschieht mit dem Gewissen, wenn sich in dem Kopf eines Mörders der Wunsch zu Töten entwickelt? Meldet es sich denn nicht zu Wort?

Doch, das meldet sich sehr wohl zu Wort. Und wie es sich zu Wort meldet, kann sehr unterschiedlich ausfallen. Wenn der Wunsch zu Töten auf unsere Moralvorstellung, "man darf nicht töten", trifft, ist dies ein ungeheurer Aufprall zweier verschiedener Welten, der von unserem Ich gar nicht so leicht zu verkraften ist. Es gibt verschiedene Folgen, die sich dadurch ergeben können. Eine typische Verhaltensweise dabei ist es, dass Moralvorstellungen vorübergehend außer Kraft gesetzt werden. Das Verbot zu Töten verschwindet vorübergehend aus dem Bewusstsein. Es wird schlichtweg ausgeblendet. So kann der Mörder töten ohne in einer Zwickmühle zu sitzen. Nach dem Mord kann er seine Tat oft selbst überhaupt nicht fassen. Das Gewissen ist zurückgekehrt und steht vor vollendeten Tatsachen.
Dies kann sogar noch einen Schritt weiter gehen. Bei dem Aufprall von Mordgedanken auf das Gewissen können auch Persönlichkeitsstörungen auftreten. Es bilden sich aus der ursprünglichen Persönlichkeit mehrere Teilpersönlichkeiten, die nicht mehr nahtlos ineinander übergehen.
Ein anderes, oft beobachtbares Verhalten, ist, dass sich das Gewissen anpasst. Eine Rechtfertigung für den Mord wird gesucht, und sie ist oft erschreckend leicht gefunden. Politisch-gesellschaftliche Meinungen können dem Mord dabei ein stützendes Korsett geben oder religiös-weltanschauliche Ansichten. "Dieser Mensch muss getötet werden, weil er für die Unterdrückung von hunderten Menschen verantwortlich ist", "Die Menschen um mich herum müssen getötet werden, weil die Menschheit an sich das Krebsgeschwür der Natur ist". Ein Ziel wird gefunden, das für den Täter höher einzustufen ist als das Gebot "du sollst nicht töten". Mörder dieser Art, und dies sind Mörder, die in ihrem Verhalten teilweise schon Terroristen zuzurechnen sind, haben dabei mit ihrem Gewissen nicht die geringsten Probleme.

Ein solcher Mörder würde also in vollem Einklang mit seinen Moralvorstellungen handeln?

Ja. Aus seiner Sicht hat er nichts Unrechtes gemacht. Auf seiner ethischen Karte wäre er schuldlos.

Und wie sieht es mit der ethischen Karte der Gesellschaft aus? Wie viel Schuld trägt ein Mörder? Und wie viel die Gesellschaft?

Das ist eine der wichtigsten, aber kaum beantwortbaren Fragen, die Sie da stellen. Die Frage nach dem freien Willen hat ja gerade im Moment eine hitzig geführte Debatte entfacht, bei der es noch jede Menge offene Aspekte gibt. Und dann auch noch die Frage der Schuld, die Ihnen wahrscheinlich zehn Leute verschiedener Weltanschauung zehnfach verschieden beantworten werden.
Das schwierige an der Frage ist, dass es sich um menschliches Verhalten handelt. Es ist erklärbar. Es spielen, je nach Tat, alte Verhaltensmuster eine Rolle, die noch aus der Zeit stammen als Menschen noch in Höhlen lebten und andere Verhaltensweisen sinnvoll waren als in der jetzigen Gesellschaft. Wir tragen diese Verhaltensmuster in uns. Es braucht nur einen Auslöser, einen Schlüsselreiz, um sie aufzurufen. Wie schuldig ist jemand, wenn eine Kette von Verhaltensmustern, die zu einem Mord führt, aufgerufen wird? Wie schuldig ist dagegen ein kalt berechnender Mörder? Man kann so viel erklären, man kann so viel verstehen, wenn man genau hinschaut. Und vom Verstehen ist es zur Entschuldigung nicht weit.
Andrerseits können wir ganz eindeutig auf Sanktionen nicht verzichten.
Ich komme der Schuldfrage also nicht sehr weit auf die Schliche. Und ich wollte nicht tauschen mit Richtern oder Gesetzgebern, die Gesetze und Sanktionen entwickeln müssen.

Wenn man sich Medienberichte über die letzten Amokläufe anschaut, fällt auf: es geschehen zunehmend mehr Morde, bei denen sich eine Gruppe von Jugendlichen zusammentut und in ihrer Schule auf Lehrer und Schüler schießt. Attentate wie die von San Ysidro - von älteren Männern begangen - werde seltener. Außerdem fällt auf, dass fast ausschließlich Männer die Täter darstellen.
Betrachtet man nun Statistiken, sieht man, dass in verschiedenen Ländern und verschiedenen Kulturen die Mordrate jeweils sehr unterschiedlich ist. Dies legt doch nahe, dass in der Gesellschaft selbst, ohne dass ich von Schuld sprechen möchte, Gründe für das Aufkommen von Mordgedanken liegt.


Sicher gibt es Einflussfaktoren aus der Gesellschaft. Ein Außenseiter, der in ein Schulzimmer stürmt und dort auf alles schießt, was sich bewegt, ist Außenseiter nur in Bezug auf die Gemeinschaft. Es spielt - gerade bei diesem Typ von Tätern - eine Rolle, wie sich die Gemeinschaft definiert und wie Menschen, die dieser Definition nicht entsprechen, behandelt werden. Selbst für Außenseiter gibt es dabei gewisse Regeln wie sie sich zu verhalten haben. Und dort sind - wahrscheinlich neben genetischer Voraussetzungen - auch die Gründe für die Differenz zwischen Anzahl männlicher und weiblicher Täter zu suchen. Für einen männlichen Täter gibt es Vorbilder, als männlicher Außenseiter ist es einem erlaubt - in gewissen Maßen - seine Aggression nach außen zu lenken. Frauen werden hingegen immer noch dazu erzogen, ihre Aggressionen nach innen, auf sich selbst zu lenken. Da passt das Morden, insbesondere das "Amoklaufen" nicht ins Muster. Und glaubt man den vielen Seifenopern, kann eine Frau ihre Aggressionen nur unterschwellig auf intrigante Art ausleben. Dies sind aber oberflächliche, von der Gesellschaft vorgegebene Muster wie sich Menschen zu verhalten haben. Diese Regeln können in jeder Gemeinschaft verschiedene Ausprägungen haben und sind damit auch die Haupterklärung für verschiedene Mordraten in verschiedenen Ländern.
Außerdem spielen bei der Anzahl der Morde in einem Land auch ganz andere, sehr konkrete Themen eine Rolle: die Anzahl der Waffen in dem Land oder die Waffengesetze.

Ein Thema will ich noch ansprechen: die viel gescholtenen Videospiele - sind sie gewaltfördernd?

Gewaltfilme und Videospiele können über zwei Wege auf Gewaltbereitschaft von Kindern und Jugendlichen wirken. Erstens wird aufgezeigt, dass man durch Waffengewalt Macht erlangen kann. Man hat das Leben des Gegenüber im Griff, man alleine entscheidet über dessen Leben oder dessen Tod. Dieses Machtgefühl kann Jugendliche - besonders solche mit Minderwertigkeitskomplexen - sehr wohl stimulieren. Zweitens kann durch die Art wie Gewalt dargestellt wird, die natürliche Hemmschwelle zu töten herabgesetzt werden. Jeder kennt diese Hemmschwelle. Sie ist der Grund dafür, dass selbst ernsthafte Schlägereien selten tödlich enden. Wir schrecken nämlich davor zurück, jemanden tödlich zu verletzen. Durch Alkohol kann diese Hemmschwelle übrigens herabgesetzt werden. Aber eben auch durch übermäßigen Konsum gewaltverherrlichender Medien. Denn die Gewalt, die dort gezeigt wird, ist verharmlosend. Menschen werden in Videospielen erschossen und fallen einfach zu Boden. Es gibt kein Flehen der Opfer, es gibt keinen Todeskampf, es gibt selten Geschrei oder Blut. All die hässlichen Seiten des Tötens werden herausgenommen. Übrig bleibt die Lektion: man muss Töten um ins nächste Level zu gelangen.
Der übermäßige Anteil der Kinder kann nach dem Konsum von Videospielen noch sehr gut unterscheiden: dies ist nur ein Spiel, auf die Einstellung zu Leben und Tod hat es keine Wirkung. Es gibt jedoch auch Jugendliche, bei denen durch dieses ständige Töten nach und nach die Hemmschwelle auch im echten Leben, Menschen umzubringen, nach unten gesetzt wird.
Trotzdem: dies soll kein Plädoyer gegen Gewaltspiele sein. Ich möchte mich nicht einmal einmischen in die Diskussion, auf wie viel Freiheit wir verzichten sollen, um ein kleines bisschen mehr Sicherheit zu erhalten.

Eine Einschätzung bitte: Werden Amokläufe in der Zukunft noch weiter zunehmen?

Das kann ich schlecht einschätzen. Hierfür gibt es so viele Einflussfaktoren. Sowohl eine Gesellschaft mit sehr starren Moralvorstellungen kann Mörder hervorbringen als auch eine, die ganz wenige Regeln besitzt und damit den Menschen nicht genug Halt bietet. Selbst wenn ich wüsste, in welche grundlegende Richtung unsere Gesellschaft wandert, könnte ich also kaum eine vernünftige Einschätzung liefern.
Eine Sache will ich zu diesem Thema aber noch loswerden: Wenn man sich die Medien anschaut und man sieht, dass dauernd von Morden, Attentaten, Amokläufen die Rede ist, nimmt man die Häufigkeit solcher Fälle in einem total verzerrten Licht wahr. Gewiss, wir sollten uns mit solchen Fällen befassen, aber wir dürfen nicht das Augenmaß verlieren.
Wenn man betrachtet, dass Milliarden von Menschen auf dieser Erde leben, und das zum Großteil auf engstem Raum miteinander, wenn man sich klarmacht, dass bei so vielen Menschen auf so wenig Raum täglich Milliarden von Konflikten herrschen müssen, ist es doch verwunderlich wie wenige Tötungsdelikte es gibt. Ich bin jedes Mal zutiefst berührt, wenn ich überlege, dass eigentlich alles im Großen und Ganzen recht friedlich abläuft.







STERNSCHLAG / KEIN AUSGANG TEIL 3

die Ausstellungsreihe: Höhepunkte der Architektur des 20. Jahrhunderts
das Thema diesmal: Frank Lloyd Wright
meine Kenntnisse über Frank Lloyd Wright: nahezu nicht vorhanden
die bisherigen Ausstellungen dieser Reihe jedoch: von herausragender Qualität
der Besuch: also hoffentlich lohnenswert
meine Stimmung: düster, traumverloren
Träume letzter Nacht: ein See in den Bergen mit erschreckend hohen Wellen
der Strand: überspült
Angst: davor in den See gezogen zu werden und zu ertrinken
sonstige Träume: unbedeutend
der Ort der Ausstellung: ein neues Multifunktionsgebäude mit Büros, Kulturflächen, Restaurants und einem großen Fitnessclub
das Konzept dahinter: aus meiner Sicht sehr kritisch zu betrachten
denn: wie die bisherigen Beispiele zeigen sind selten alle Flächen nachhaltig ausgelastet
meistens: findet bei solchen Gebäuden nach und nach eine Fokussierung auf ein Feld - Kleingewerbe, Büroflächen oder Kultur - statt
anstelle: eines Nebeneinanders dieser Felder
trotzdem: der Trend zu Immobilien mit mehrfachen Zwecken - gerade in den Innenstädten - ungebremst
das Gebäude, in dem die Ausstellung über Frank Lloyd Wright stattfinden soll: direkt vor mir
Gestaltung des Gebäudes: alles in allem gut
die Eingangshalle: luftig, mit einigen an die 20er Jahre erinnernde Elementen
der Ort: etwas abseits der Innenstadt, deshalb nicht ganz so belebt
Frank Lloyd Wright: in der dritten Etage
Hinweisschilder: in der Eingangshalle
der Weg in die dritte Etage: über Aufzüge
vor den Aufzügen wartend: ich und ein Junge
geschätztes Alter des Jungen: 15 Jahre
Frage in meinem Kopf: das Ziel des Jungen - die Büros oder die Ausstellung?
ein Geräusch: ein sanfter Klang
der Pfeil über einer Aufzugstür: aufleuchtend
die Türen des Aufzugs: nun geöffnet
der Junge: betritt den Aufzug und drückt auf das Knöpfchen seiner Zieletage
ich: betrete den Aufzug
die Knöpfchen, die die Etagen des Gebäudes repräsentieren: von 0 bis 9
leuchtend: die 3
das Ziel des Jungen: also ebenfalls die Ausstellung über Frank Lloyd Wright
mein Platz im Aufzug: neben dem Jungen; zu den Türen gerichtet
die Türen des Aufzuges: nun geschlossen
Start der Aufzugsfahrt: jetzt
erwartetes Gefühl bei einer Aufzugsfahrt nach oben: Schwere in den Beinen
Gefühl beim Start der Aufzugsfahrt: Schwerelosigkeit in den Beinen
der Aufzug: also nach unten unterwegs
verwirrter Blick des Jungen: auf das Armaturenbrett mit den Knöpfchen gerichtet
die Knöpfchen, die die Etagen des Gebäudes repräsentieren: zehn
Nummerierung: 0, 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9
nicht vorhanden: "-1" oder "U" oder irgendein anderes Knöpfchen, das man drücken könnte, um in den Keller zu gelangen
unter dem Armaturenbrett: ein Schloss
Schlussfolgerung: Fahrten in den Keller können über einen besonderen Schlüssel bestellt werden
Vermutung: ein hausinterner Techniker hat im Keller eine Aufzugsfahrt nach oben bestellt
die Aufzugsfahrt: weiter nach unten
der Keller: vermutlich mehrere Etagen tief
vermutete Etage des Aufzuges jetzt: -3
die Fahrt des Aufzuges: nicht stoppend
die Fahrt des Aufzuges: beschleunigend
der Blick des Jungen: ängstlich auf mich gerichtet; als ob ich etwas tun oder zumindest ihn beruhigen sollte
mein Blick auf das Armaturenbrett: kein Nothalt vorhanden
das Armaturenbrett: die Knöpfchen, das Schloss, sonst nichts
genauerer Blick: sonst nichts
der Aufzug: beschleunigend, noch immer beschleunigend
in meinem Bewusstsein: ein leichter Anflug von Panik
im Hintergrund meines Bewusstseins: Erinnerungen an einen Traum
die Fahrt des Aufzuges: schneller und schneller
das Gefühl in den Beinen: immer schwereloser
vermutete Etage des Aufzuges jetzt: zwischen -5 und -10
Frage in mir: wie viele unterirdische Etagen hat dieses Gebäude?
vermuteter Aufprall auf den Boden: unmittelbar bevorstehend
ein Aufprall dieser Art: verheerend
die Hoffnung: möglichst baldiger Aufprall bevor der Aufzug noch schneller wird und keine Überlebenschance mehr besteht
der Aufprall: nicht erfolgend
Geschwindigkeit des Aufzuges: schneller und schneller
geschätzter Ort: 80 Meter unter der Erde
in meinem Bewusstsein: Panik
im Hintergrund meines Bewusstseins: Erinnerungen an einen Traum
ein Traum dieser Nacht: vom Ertrinken in einem See
sonstige Träume: unbedeutend
im Hintergrund meines Bewusstseins: rot
die Farbe: rot
geschätzter Ort: 150 Meter unter der Erde
der Aufzug: jetzt ruckelnd; immer noch beschleunigend
die Aufzugsbeleuchtung: flackernd
sonstige Träume: unbedeutend
sonstige Träume: unbedeutend
sonstige Träume: UNBEDEUTEND
im Hintergrund meines Bewusstseins: rot
ein Blick auf den Jungen: auf dem Boden
geschätzter Ort: begraben unter der Erde
sonstige Träume: UNBEDEUTEND
in meinem Bewusstsein: rot
ein Blick auf den Jungen: zerstückelt; tot





Nur ein paar Wolken vor dem perfekten Blau des Himmels. Nur ein paar kleine, weiße Wolken, die über das Land ziehen - hier, in der Mitte von Nirgendwo. Und ein Windstoß, wie ein Flüstern über deine Haut. Geschlossene Augen: dieser Wind weht über Felder, nicht über Asphalt. Nichts als Wiesen hier. Und das perfekteste Blau des Himmels. Nichts als Stille hier, und ein Junge mitten in den Feldern. Leg dich hin, leg dich mit dem Rücken auf den Boden. Schau in den Himmel und saug das Blau in dich auf. Schließe die Augen und spüre wie der Wind über deine Haut streicht. Öffne die Augen. Such dir deine Wolke aus. Leben - unendlich wertvoll. Jeder Augenblick, jedes Molekül. Jeder Moment der Freude, jeder Moment des Lernens. Atme tief ein, spüre das Wölben deiner Brust. Höre das Geräusch deines Atmens, höre es in dir wie zum ersten mal. Und die Wolken, die über den Kontinent ziehen. In chaotischen Bahnen. Auftürmend und wieder zusammenfallend. Wie in Zeitlupe, wie in einer Geschwindigkeit, bei der der Mensch kaum noch Entwicklung feststellen kann. Dieser Junge in der Mitte unendlicher Weiten, unendlicher Weiten von Prairie. Nur Strommasten als Zeugen menschlicher Zivilisation irgendwo. Stromleitungen, die ein Muster gegen das Blau des Himmels zeichnen. Unendlich schön. Unendlich einzigartig. Nimm alles in dich auf. Sei geöffnet so weit du kannst. Sei wach, sensibel, mutig, neugierig. Nimm die Welt so weit in dich auf, dass es fast wehtut. Nimm sie so weit in dich auf, dass du es fast nicht noch intensiver ertragen kannst. Genieße, lerne. Lerne die Muster. Begreife die Muster. Mathematik überall. Und Millionen von Momenten der Schönheit dort wo Regeln auf Chaos treffen. Dort wo Regeln, die wir begreifen, auf Regeln treffen, die für unser menschliches Gehirn nicht nachvollziehbar sind. Dieser kurze Moment dazwischen, an dem man versteht. Dieser kurze Moment dazwischen, an dem man wirklich begreift. Nimm es auf. Nimm es auf in dich. Mathematik überall. Such dir deine Wolke aus. Zähle die Wolken, die über die Stromleitungen fliegen. Miss den Abstand von Strommast zu Strommast. Miss die Spannweite der Strommasten. Miss die Entfernung indem du unter den Stromkabeln entlang gehst und deine Schritte zählst. Miss die Mitte des Tages. Steh früh morgens auf und notiere die Uhrzeit des Sonnenaufgangs. Bleib wach, leg dich in die Wiesen bis zum Sonnenuntergang. Errechne die Mitte des Tages. Miss die Richtung Süden indem du schaust, wo die Sonne bei Tagesmitte steht. Zähle die Wolken, die über die Stromleitungen fliegen. Errechne die Windrichtung relativ zum Koordinatensystem der Stromleitungen am Himmel. Errechne die Windrichtung relativ zur Richtung Süden. Die Windrichtung, mit der die Wolken über das Land segeln. Lass den Wind durch dein Haar ziehen. Lass dich fallen. Genieße jeden Moment. Dieser Junge, such dir deine Wolke aus am Himmel. Lass einen Marienkäfer auf deinem Arm landen - wie ein kleiner Helicopter. Puste ihn in die Luft, begreife die chaotische Bahn seine Fluges. Lerne das Gefühl all dieser Großartigkeit um dich herum. Lass es größer werden als du selbst. Sei überwältigt. Mathematik, Sprache, Poesie. Überall wartet etwas darauf übersetzt zu werden. Fang es in dich ein. Mach Bilder in dir. Sei anwesend, tief anwesend. Es ist Chaos und es ist Schönheit. Und Vernetzung von allem. Moleküle, die Millionen anderer Moleküle anstoßen. Moleküle, die von Millionen anderen Moleküle angestoßen werden. Menschen, die sich anstoßen. Taten, die Millionen von Reaktionen auslösen. Es ist pures Chaos. Es ist nicht der geringste Platz für Gut und Böse. Nicht berechenbar mit dem besten Computer der Welt. Aber beschreibbar. Wie Momente der Schönheit. Wie das Flüstern in deinem Ohr. Saug es in dich auf. Sei wach. Träume davon, in einem kleinen, weißen Segelflugzeug über das Land zu fliegen. Träume davon, dich zu sehen wie du im Feld liegst und die Welt in dich aufnimmst. Sanft, verletzlich, wach. Es ist so viel, dass du es kaum mehr tragen kannst. Träume davon wie ein Elektron durch die Stromleitungen zu reisen. In unfassbarer Geschwindigkeit in den Norden, über Autobahnen, in den Winter und ans Meer. Träume von Hochplateaus. Das schönste Blau des Himmels gegen den Wind, der über das Feld streicht. Miss die Schönheit. Merkst du denn nicht wie wertvoll der Moment ist? Merkst du denn nicht wie wertvoll diese Welt ist? Wie das Flüstern über das Land.

"Ihr gottverdammten Hurensöhne! Verfickte Bastarde!" Kurze Stille. "Verfickte Hurensöhne! Ihr wollt mich wohl verarschen, was? Ich lass mich aber nicht verarschen. Erst recht nicht von so dreckigen Bastarden wie euch!" Mr. Huberty kocht vor Wut. Und er schreit gegen das Blau des Himmels. "Denkt ihr, ich merke nicht, dass ihr mich verarschen wollt? Wo habt ihr mich hier abgesetzt? Wo bin ich hier? Wo?" Er stampft auf den Boden und spuckt gegen den Himmel. Alles ist still hier. Absolut still. Mr. Huberty hasst Stille. Er kann seine eigenen Schreie hören, sonst nichts. Nicht einmal das Geräusch eines Windstoßes dringt in sein Ohr hervor. "Hurensöhne! Ihr Hurensöhne!" Mr. Huberty schaut sich um. Wo hat man ihn hier abgesetzt? Hier ist nichts außer Feldern, Himmel und unerträglicher Stille. Nur ein paar Stromleitungen, sonst nicht das geringste Zeichen menschlicher Zivilisation. Verdammt, was soll das hier? Wer hat sich ausgedacht, ihn alleine in der Mitte von Nirgendwo abzusetzen? Mr. Huberty fühlt sich taub und hilflos. Und er schreit gegen den Himmel - es ist ja sonst nichts da zum Anschreien. "Ihr habt da was mit dem Ton gedreht, oder? Ich kann nichts hören. Stellt mir den Ton wieder an!" Er nimmt eines seiner Gewehre und schießt in die Luft. Es gibt einen lauten Knall. "Verdammt, was soll das hier? Antwortet mir! Warum kann ich mein Gewehr hören, aber sonst nichts?" Er schießt mehrfach in die Luft - als ob er dort oben jemand treffen will. "Antwortet mir, ihr Mutterficker!" Mr. Huberty nimmt einen Stein, den er auf den Boden findet, und wirft ihn mit voller Wucht in die Luft. Dann schreit er so laut er nur kann. "Holt mich hier raus!" Er klingt fast flehend. "Holt mich hier raus!" Mr. Huberty hält inne und überlegt. Warum setzt man ihn ausgerechnet hier aus? Was soll er hier machen? und wer ist es überhaupt, der ihn hier aussetzt? Die Regierung? Die Geheimdienste? Wer? Verdammt noch mal, wer? Er schaut sich um. Hier ist wirklich absolut nichts. Überhaupt nichts. Und was ist hier falsch mit dem Ton? Er kann kein Geräusch hören, das nicht von ihm selbst stammt. Er kann nichts von dem Wind hören, der über die Felder weht und das Gras wie in Wellen bewegt.
Plötzlich stockt er. Da ist etwas. Da ist etwas auf dem Feld, etwa 200 Meter von ihm entfernt. Sofort schleicht er los, wie auf der Jagd. Was ist es, was er da entdeckt hat? Leise spricht er zu sich selbst: "Oh, gibt's da noch jemanden? Na warte, dich werde ich auch noch kriegen!". In einiger Entfernung von ihm liegt, wie gelähmt vor Angst, ein Junge im Feld. "Dich werde ich auch noch kriegen!". Mr. Huberty legt sein Gewehr an. Der Junge sieht, dass dieser Mann mit einer Waffe in seine Richtung zielt, betet, dass seine vor Angst zitternden Beine ihn tragen werden und rennt los so schnell er nur kann. Mr. Huberty schießt. Er trifft nicht. Der Junge rennt und schlägt in seiner Panik Haken wie ein Hase - immer dann, wenn er befürchtet, der Mann wird wieder schießen. Mr. Huberty schießt. Daneben. Dann noch einmal. Und diesmal trifft er den Jungen am rechten Bein. Der Junge fällt zu Boden, versucht verzweifelt sich wieder aufzurichten, um weiter zu rennen. Doch er bleibt am Boden liegen. Mr. Huberty redet zu sich selbst: "Bastard! Ich habe doch gesagt, dass ich dich kriege". Mit schnellen Schritten marschiert er in Richtung des verwundeten Jungens. Dabei schreit er wieder gegen den Himmel: "Ist es das, was wir wollt? Wie viele soll ich noch umbringen?" Dann richtet er seine Wut gegen den angeschossenen Jungen: "Ich hab, dir doch gesagt, dass ich dich kriege! Verfickter Hurensohn! Verfickter Mutterficker! Ich werde dich kaputt schießen!" Bald hat er den verwundeten Jungen erreicht. Der hat längst aufgegeben, vor Mr. Huberty zu fliehen und liegt jetzt mit zerschossenem Bein und zu Huberty gerichtetem Körper auf dem Boden. "Jetzt habe ich dich, du kleiner Hurensohn! Jetzt habe ich dich! Siehst du, es gibt kein Entkommen vor mir." Der Junge öffnet seinen Mund, als ob er etwas sagen will, als ob er um sein Leben flehen will, doch vor lauter Angst kommt kein Ton heraus. Mr. Huberty sieht wie der Junge seine Lippen bewegt. "Du verfickter Bastard! Was sagst du? Ich kann dich nicht hören. Ich kann dich nicht hören!" Mr. Huberty wird dabei noch wütender. "Du steckst mit denen unter einer Decke, oder? Die haben dich geschickt, stimmt's? Ihr gottverdammten Hurensöhne!" Der Junge versucht verzweifelt zu sprechen, aber wieder kommt kein Ton. "Jetzt reicht's!" Mr. Huberty nimmt sein Gewehr und zielt auf den Jungen, der vor Todesangst zittert und zuckt. Mr. Huberty schießt ihm in die Brust. Er schießt ihm in den Bauch. Er schießt ihm durch das Herz. "Ihr Bastarde". Mr. Huberty schreit, dann nimmt er Anlauf und kickt mit voller Wucht dem toten Jungen in die Seite. "Verfickte Hurensöhne! Gottverdammte verfickte Hurensöhne!" Er beugt sich über den toten Jungen und schießt ihm mit einem gezielten Schuss mitten ins Gesicht.

Es gibt keinen Ausgang.









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